Cover
Titel
The Trial of the Kaiser.


Autor(en)
Schabas, William A.
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 410 S.
Preis
£ 24.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus M. Payk, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg

Dass der Weg zu den Nürnberger Prozessen von 1945 über Paris 1919 und Leipzig 1921 führte, ist eine im letzten Jahrzehnt mit immer neuer Entdeckerfreude festgestellte Einsicht, obschon jene „vergessene Vorgeschichte“ bereits vor vierzig Jahren intensiv ausgelotet wurde.1 Auch das hier anzuzeigende Buch von William Schabas beginnt mit dem Befund, dass sich die amerikanischen Juristen in der Vorbereitung des Internationalen Militärtribunals kaum für die Bemühungen ihrer Vorgänger nach 1918 interessiert, sondern fälschlich den Eindruck eines präzedenzlosen Bruchs mit allen Rechtstraditionen erweckt hätten. Ruft dieser konventionelle Auftakt zunächst Skepsis hervor, so verfliegt sie rasch. Schabas, der u.a. mit einer fundierten Rechtsgeschichte des Genozid-Begriffs hervorgetreten ist2, bietet weit mehr als eine nochmalige Nacherzählung der Entstehung einer „new justice“3 im Nachgang des Ersten Weltkriegs. Im Mittelpunkt steht die individuelle, völkerstrafrechtliche Verantwortung des deutschen Kaisers Wilhelm II, die in der Tat bislang nur wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Die Geschichte des Völkerstrafrechts hat sich zwar ausgiebig mit dem Konzept des Angriffskriegs beschäftigt, mit Vorstellungen zur Zivilisierung von Kriegsgewalt oder mit der Frage rückwirkender Strafbarkeit, aber nur wenig mit dem spezifischen Problem einer Immunität von Staatsoberhäuptern. Entsprechend sprachlos war die historische Forschung darum, als im Streit um die Immunität des 2008 vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagten Präsidenten des Sudan, Umar al-Baschir, überraschend detailliert auf den Präzedenzfall des letzten deutschen Kaisers Bezug genommen wurde.4

Das Buch verknüpft drei Perspektiven: Es behandelt den Versuch der alliierten Siegermächte, das (ehemalige) deutsche Staatsoberhaupt für den Ausbruch des Weltkrieges wie für einzelne Kriegsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen; es betrachtet Denkwelt und Lebensrealität des 1918 in die Niederlande geflohenen Wilhelm II.; und es blickt auf die unglückliche niederländische Regierung, die innen- wie außenpolitisch durch den ungebetenen Gast auf eine harte Probe gestellt wurde. Fast nur noch am Rande kommt die deutsche Staatsführung vor, die sich ab November 1918 anderen Herausforderungen als der Sorge um den schmählich geflohenen Monarchen gegenübersah; nur noch vereinzelt erhoben sich in Deutschland Stimmen, welche eine Ehrenerklärung für Wilhelm II. abgaben oder sich gar schützend vor ihn stellen wollten.

Schabas verfolgt seine drei Erzählstränge in insgesamt achtzehn Kapiteln, welche zunächst sattsam bekannte Stationen abschreiten. Es werden nochmals die britischen und französischen Debatten der Kriegsjahre über eine strafrechtliche Verfolgung aufgeschlüsselt, die Beiträge einzelner Juristen dargestellt oder die Verhandlungen der ab Februar 1919 in Paris zusammengetretenen „Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties“ betrachtet. Auf überzeugende Weise kann Schabas aufzeigen, dass die Entscheidung für eine strafrechtliche Verfolgung nicht nur dem augenblicklichen Triumphgefühl des Kriegsendes geschuldet war oder gar dem britischen Wahlkampfgetöse von Dezember 1918 („Hang the Kaiser“), sondern dem Wunsch nach einer rechtsförmigen Aufarbeitung des Weltkrieges entsprach. Zum Status quo ante zurückzukehren, war nach den Erfahrungen und Entbehrungen eines vierjährigen Massenkriegs keine Option mehr, und auch eine Lösung „à la Napoleon“ (S. 56), wie es in der britischen Kabinettsdiskussion hieß, konnte sich nicht durchsetzen. Was blieb, war die Forderung nach einem neuartigen internationalen Tribunal, welches den Gerechtigkeitsanspruch der Alliierten verwirklichen und zugleich jeden Eindruck einer politischen Siegerjustiz vermeiden sollte.

Dieses Bemühen nahm sich aus der Perspektive des Kaisers naturgemäß anders aus, dessen Flucht über den Zwischenaufenthalt in Schloss Amerongen bis hin zu seinem eigentlichen Exil in Haus Doorn das Buch parallel zu den interalliierten Verhandlungen nachzeichnet. Der Leserschaft tritt ein gekränkter und verstockter Regent entgegen, der mit seinem bemerkenswert unspektakulären Thronverlust lange Zeit haderte, über seine Verantwortung für den Weltkrieg aber kaum etwas zu sagen wusste. Schabas bringt auch nahezu unbekannte Episoden ans Tageslicht, darunter den gescheiterten Versuch einer kleinen Gruppe amerikanischer Soldaten, Wilhelm II aus Amerongen zu entführen und nach Paris zu bringen. Bemerkenswert sind daneben die Solidaritätsgesten, welche dem geflohenen Kaiser innerhalb der europäischen Aristokratie entgegengebracht wurden.

Schließlich bezieht Schabas in seine Betrachtung auch die Auseinandersetzungen innerhalb der niederländischen Regierung ein, die in der vorliegenden Literatur oftmals wenig berücksichtigt oder allenfalls aus innenpolitischer Perspektive aufgeschlüsselt werden. Es hatte Gründe, wenn der britische Außenminister Arthur Balfour auf die Nachricht, dass sich Wilhelm II in die Niederlande geflüchtet habe, mit dem mitleidigen Kommentar „poor dutch“ (S. 73) reagierte. Schon bald setzte zwischen alliierten Diplomaten und niederländischen Regierungsvertretern im Hintergrund ein erbittertes Tauziehen ein, wie mit dem ehemaligen Kaiser zu verfahren sei, was die ohnehin uneinige Staatsführung in Den Haag erheblich belastete. Als nach Abschluss und Ratifikation des Versailler Vertrages von alliierter Seite jedoch öffentlich eine barsche Auslieferungsforderung gestellt wurde, konnten die Niederlande kaum anders als abzulehnen. Schabas zeigt auf überzeugende Weise, dass es vor allem das ungeschickte bis undiplomatische, oft mit Drohungen untermauerte Vorgehen der Siegermächte war, welches die Verhandlungen mit der niederländischen Seite so schwierig machte. Allerdings: Nicht wenige Akteure auf alliierter Seite waren nachmals rasch bereit, sich mit der gegebenen Lage zu arrangieren und über das, bekanntlich bis an sein Lebensende 1941 dauernde, Exil Wilhelms II. in den Niederlanden nach Kräften hinwegzusehen.

Connaisseuren des historischen Aktenstudiums bietet das Buch viel. Im Gegensatz zu einer häufig auf veröffentlichte Texte fixierten Jurisprudenz hat sich Schabas die Mühe aufwendiger Archivstudien vom London bis Rom, von Den Haag bis Tennessee gemacht, und die dabei gewonnenen Einsichten merkt man der Sicherheit seiner Argumentation an. Der Anmerkungsapparat würde jeder historischen Qualifikationsschrift zur Zierde gereichen. Dahinter steht kein Selbstzweck, denn der Autor beklagt zugleich, dass die inhaltlichen Debatten der „Commission on the Responsibility of the Authors of the War“ in der späteren juristischen Diskussion weithin ignoriert oder falsch zusammengefasst worden seien (S. 119f.); auch deshalb analysiert er die Positionen der Beteiligten und den Ablauf der Verhandlungen so nuanciert, wie man es anderenorts kaum findet. Sicherlich würden manche Kenner der Materie den einen oder anderen Punkt anders akzentuieren. Insgesamt aber stellt Schabas den historischen Verlauf von den ersten Überlegungen über die Beschlüsse der Pariser Kommission bis hin zu den ausformulierten Klauseln des Versailler Vertrages und den früh stockenden und bald aufgegebenen Vorbereitungen für ein Tribunal in London auf Grundlage umfassender Quellenkenntnis überzeugend dar.

Dass es trotzdem das Buch eines engagierten Juristen ist, merkt man an vielen Querverbindungen, die ein Fachhistoriker aus Sorge vor teleologischen oder anachronistischen Bezügen vielleicht nicht so unbefangen ziehen würde. Dass mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages sogleich Hitler die Bühne betritt, um sich unter dem Eindruck des Friedensschlusses zu radikalisieren (S. 212), deutet beispielsweise jene vermeintlich kausale Verknüpfung von 1919 und 1933/1939 an, welche in der Geschichtswissenschaft inzwischen mehrheitlich zurückgewiesen wird. Daneben wird vielfach auf die Nürnberger Prozesse oder auch auf die Tätigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs hingewiesen, um die Fortentwicklung einzelner völkerstrafrechtlicher Aspekte auszuleuchten und so den Präzedenzcharakter der juristischen Debatte um Wilhelm II. herauszuheben. Im Schlusskapitel wird Schabas dann endgültig zum Rechtslehrer, der mit seiner Leserschaft die Frage „Was he Guilty?“ nach den Grundsätzen der juristischen Didaktik durchgeht: Es werden die denkbaren Anklagepunkte eines möglichen Tribunals zusammengetragen, es wird die Beweislage gewürdigt, und es werden vorstellbare Argumentationen von Anklage und Verteidigung geprüft. Ein klares Urteil vermeidet der Autor allerdings, indem er zutreffend darauf hinweist, dass ein Gericht kein Ort der historischen Wahrheitssuche sei, sondern nach eigenen Kriterien und Logiken operiert (S. 312f.). Am Ende steht darum wieder ein historischer Befund: Es sei staunenswert, so Schabas, wie plötzlich nach 1917/18 die Idee internationaler Gerechtigkeit auf der Tagesordnung erscheinen konnte, und staunenswert sei auch, dass sie davon nicht wieder verschwunden ist.

Anmerkungen:
1 Vgl. James F. Willis, Prologue to Nuremberg. The Politics and Diplomacy of Punishing War Criminals of the First World War, Westport, Conn. 1982; Walter Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage. Die Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechern als Problem des Friedensschlusses 1919/20, Stuttgart 1982. Daneben sei lediglich hingewiesen auf Gerd Hankel, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003.
2 Vgl. Kerstin von Lingen, Rezension zu: William A. Schabas, Der Genozid im Völkerrecht, Hamburg 2003, in: H-Soz-Kult, 23.04.2004, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-4858 (14.10.2019).
3 Vgl. Mark Lewis, The Birth of the New Justice. The Internationalization of Crime and Punishment, 1919–1950, Oxford 2014.
4 Zusammenfassend etwa Guénaël Mettraux / John Dugard / Max Du Plessis, Heads of State Immunities, International Crimes and President Bashir’s Visit to South Africa, in: International Criminal Law Review 18 (2018), S. 577–622.

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